Klimaschutz im Namen der Schöpfung: Lasset die Kirchen im Dorf und die Braunkohle unter Lützerath im Boden

Von Sandra Prüfer

Lützerath/Bonn, 30.01.2023

Die Redewendung „Die Kirche im Dorf lassen“ bedeutet „auf dem Boden der Tatsachen bleiben“. Sie soll ihren Ursprung in katholischen Prozessionen haben, in denen eine Kirchengemeinde bei ihrem Umzug die Dorfgrenze überschritt, was Unmut in benachbarten Dörfern hervorrief. Die Gemeinde, so hieß es dann, solle sich nicht so aufblasen, es nicht übertreiben und gefälligst die Kirche im Dorf lassen.

Am 13. Januar 2023 schließe ich mich einer kleinen Prozession hinter einem gelben Kreuz an, von dem Dorf Keyenberg zu dem etwa 3,5 Kilometer entfernten Nachbarort Lützerath. Die rund 30 Teilnehmer:innen wollen damit ein Zeichen der Solidarität setzen und ihre Unmut äußern gegen die Zerstörung des Nachbardorfs an der Kante des Garzweiler Kohlereviers, das zu einem Symbol der globalen Klimabewegung geworden ist. Gemeinsam beten und singen sie dabei für die Bewahrung der Schöpfung und eine friedliche und gewaltfreie Konfliktlösung.

 

Drinnen und draußen – im Gebet vereint

Die Initiative „Die Kirche(n) im Dorf lassen“ (KiDl) hatte zu diesem ökumenischen Gottesdienst am Zaun eingeladen unter dem Motto „Drinnen und draußen – im Gebet vereint“. Am dritten Tag der Lützerath Räumung harren noch immer Dutzende Klimaaktivist:innen in besetzten Häusern, Baumhäusern und einem unterirdischen Tunnel aus. Der Weiler war inzwischen von der Polizei eingenommen und komplett umzäunt. Ein Zugang nach innen war somit nicht mehr möglich.

Der Treffpunkt für den Gottesdienst ist 15 Uhr vor der Kirche in Keyenberg. „Drinnen“ in der Kirche werden keine Gottesdienste mehr gefeiert, weil die RWE Power AG seit 2019 Eigentümerin der Heilig-Kreuz-Kirche ist. Sie ist eine der zehn ältesten urkundlich erwähnten Kirchen Deutschlands. Am 28. November 2021 wurde sie mit Zustimmung des Aachener Bischofs entwidmet. Zuvor wurden die Glocken aus dem Kirchturm abgebaut. Umso mehr wundert es, dass zu Beginn des Gottesdienstes ihr altes Glockenspiel ertönt – über Lautsprecher, aus dem noch bewohnten ehemaligen Pfarrhaus. 

Trotz stürmischen Wetters haben sich über 25 gläubige Klimaaktivist:innen zum Gottesdienst versammelt. Das verschlossene Kirchenportal schmückt sie mit einem Banner, auf dem steht: „Jesus würde die Kohle in der Erde lassen.“

Teilnehmer:innen der Prozession berichten, dass die RWE- und Polizeieinsatzkräfte zwei Tage zuvor mit als erstes die „Eibenkapelle“ geräumt hatten, ein Andachtsort der KiDl-Initiative am südöstlichen Ortseingang, an der früheren L227 Landstraße. Dort merkte man sich einst ein Wegekreuz, vielleicht auch eine Wegkapelle, wie lokale KiDl-Mitglieder herausgefunden hatten. Anselm Meyer-Antz, der Sprecher der Initiative, erläuterte, dass das Grundstück eine Schenkung an die katholische Kirchengemeinde in Immerath sei von den Vorgängern des mittlerweile verkauften Bauern Eckardt Heukamp gewesen. Dieser hatte sich jahrelang hartnäckig gegen die Enteignung gewehrt. Im Frühjahr sah sich Heukamp aber schweren Herzens gezwungen, seinen Hof und Ackerland an RWE zu verkaufen, nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster in letzter Instanz entschieden hatte, dass der Energiekonzern seinen Grundbesitz für den Braunkohletagebau abbaggern darf. „Das Grundstück der Eibenkapelle ist nach dem Grundbuch immer noch Eigentum der katholischen Pfarrgemeinde“, so Meyer-Antz. Eine handvoll Gläubige hatte bis zuletzt über die Freiluft-Kapelle gewacht als „Ort einer befreienden und ökologischen Spiritualität“, bis sie nun von Polizeikräften mit Gewalt entfernt wurden.

Gläubige Menschen von der Kirche(n) im Dorf lassen ein Banner aufhängen.

Wachet und Betet für Lützerath

Geleitet wird der Gottesdienst von Manfred Esmajor, einem pensionierten katholischen Pfarrer aus Aachen. Zu Beginn liest er das Gleichnis des Feigenbaums (Neues Testament, Markusevangelium Kapitel 13, 28 ff), in dem er Parallelen zu der Räumung von Lützerath sieht. Im Rollstuhl fahrend führt er die Prozession an, von der Kirche hinaus auf die Landstraße L12, vorbei an leerstehenden Häusern. Mit einem Mikrophon und Verstärker auf dem Schoß singt er mit der Gemeinde das Taizé-Lied „Bleibet hier und wachet mit mir – wachet und betet“ – Jesu Aufforderung an seine Jünger im Garten Gethsemane.

Kurz vor dem Dorfausgang wird der Zug von der Polizei gestoppt, um eine Gruppe von Klimaaktivist:innen, darunter von Greenpeace und Scientist Rebellion, vorbeiziehen zu lassen, die sich in entgegengesetzter Richtung von der neu errichteten Mahnwache in Holzweiler aufgemacht hatten. 

Keyenberg gehört zu den fünf geretteten Dörfern, für deren Erhalt sich Bund, Land und RWE in ihrem 2030 NRW-Kohleausstieg-Deal geeinigt haben. Von den einst 900 Einwohnern leben noch etwa 60 in Keyenberg. Nach der Unterbrechung liegen Esmajor die Namen der Dörfer vor, die durch den Garzweiler Kohleabbau bereits abgebaggert wurden. „Dein Reich der Gerechtigkeit komme“, antwortet die Gemeinde.

 

Lützerath markiert 1,5 Grad-Grenze 

Auf der Landstraße sieht man in der Ferne den RWE-Bagger, der sich unaufhaltsam Lützerath nähert, und Windräder. Über die Felder peitschen Regen und Wind. Genau hier sagen die Klimaaktivist:innen, Verlaufe die 1,5-Grad-Linie, die verteidigt werden muss, damit Deutschland das Pariser Abkommen einhalten kann – mit dem Ziel, die weltweite Klimakatastrophe abzuwenden.

Die Initiative „Die Kirche(n) im Dorf lassen“ entstand 2018 aus dem lokalen Widerstand gegen den lebensfeindlichen und klimaschädlichen Tagebau. Seinerzeit ging die Bilder von der Zerstörung der St. Lambertus Kirche, im Volksmund „Immerather Dom“ genannt, um die Welt, und vier weitere Kirchen drohte der Abriss. Doch die Initiative setzt sich nicht nur für den Erhalt der Dörfer, ihrer Kirchen und Kapellen und des fruchtbaren Ackerbodens im Rheinischen Kohlerevier ein, sondern sieht ihren Einsatz untrennbar verbunden mit dem Kampf für die globale Klimagerechtigkeit. 

Pfarrer Esmajor berichtet beispielhaft aus dem Kongo. Für die kongolesischen Menschen und Gemeinden, mit denen er vor Ort zusammenarbeitet, waren die Folgen des Klimawandels längst spürbar. Wetterextreme, Dürren und Fluten häufen sich. Im Dezember sind allein in der Hauptstadt Kinshasa mindestens 120 Menschen durch Überschwemmungen und Erdrutsche ums Leben gekommen.  

Am Wendepunkt der Prozession haben die Teinehmer:innen Gelegenheit, ihre Sorgen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und Fürbitten zu sprechen. Eine Frau erinnert an die vielen Tiere und Pflanzen, die in Lützerath ihr Habitat verloren haben, eine andere weist auf die Gesundheitsgefahren des Tagebaus hin durch Feinstaubbelastung und Radioaktivität. Einige äußern ihre Sorge über die klimaschädlichen Folgen der RWE-Kohleverstromung für das Weltklima, andere ihre Hoffnung auf ein Moratorium für die Kohleförderung unter Lützerath.

 

Miteinander Reden statt Räume

Hoffnung schöpft sie aus der Verlautbarung der grünen Landtagsabgeordneten und befreundeten Umweltaktivistin Antje Grothus, dass sich im aktuell genehmigten Betriebsplans für den Tagebau Garzweiler Flächen befinden, deren Eigentümer nicht an RWE verkaufen wollten. Somit drohen im geplanten Abbaugebiet langwierige und juristisch unsichere Enteignungen auch nach einer Räumung Lützeraths. „Der Tagebau könnte bis zu deren Abschluss einige hundert Meter hinter Lützerath zum Stillstand kommen“, sagte sie in den zuvor veröffentlichten Tags Beschwerden. „Es muss jetzt gelten: Reden statt Räumen“, so Grothus. 

Anselm Meyer-Antz berichtet, dass sein Arbeitgeber Misereor ebenfalls Stellung bezogen haben und alle Konfliktbeteiligten zur Besonnenheit aufrufe. Das katholische Hilfswerk für Entwicklungszusammenarbeit fordert von der Landesregierung ein sofortiges Moratorium für die Räumung, um die Interessenkonflikte zwischen der Einhaltung des 1,5-Grad-Klimaziels und der Sorge um die Versorgungssicherheit zu lösen. Auch die Interessen des globalen Südens müssten berücksichtigt werden.

„Die Hauptursache für den Klimanotstand sind fossile Brennstoffe“, betont Meryne Warah, globale Organisationsdirektorin von GreenFaith mit Sitz in Nairobi, in der Stellungnahme. „Um des Lebens Willen und um massives, graues Leid zu verhindern, brauchen Afrika und die ganze Welt ein verbindliches Abkommen, das neue Projekte für fossile Brennstoffe stoppt, die bestehende Produktion auslaufen lässt und großzügige Unterstützung für den Übergang zu einer sauberen Energiezukunft und den allgemeinen.“ Zugang zu sauberer, zugänglicher Energie bietet.“

 

 

Prozession von KiDl in Lützerath.

 

Das Gelbe Kreuz: Von Gorleben nach Lützerath

Auf dem Rückweg nach Keyenberg unterhalte ich mich mit Michel Friedrich, einem Lehrer aus Wedel bei Hamburg, der in seiner Jugend in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert war. Der Atom- und Kohleausstieg gehört für ihn zusammen. 

Friedrich erzählt, dass er und seine Frau Bina im Sommer 2021 bei dem  „Kreuzweg für die Schöpfung“ von Gorleben nach Lützerath mitgelaufen sind. Ein Bündnis aus Klima- und Umweltinitiativen, christlichen Gruppen und kirchlichen Institutionen hatte zu der Pilgerwanderung unter dem Motto „Anti-Atom trifft Anti-Braukohle“ aufgerufen. Dabei wurde ein 1,80 Meter großes gelbes Holzkreuz in 26 Etappen fast 500 km bis zur Garzweiler Tagebaukante getragen, vorbei an dem stillgelegten Atomkraftwerk Grohnde, den Fleischfabriken von Tönnies, dem Kohlekraftwerk Datteln 4, der RWE-Zentrale in Essen und der Landesregierung in Düsseldorf . Die Aktion knüpfte an den legendären „Kreuzweg für die Schöpfung“ von 1988 an von dem bayerischen Wackersdorf (Standort einer möglichen Wiederaufbereitungsanlage) nach Gorleben – als Ausdruck des inneren Zusammenhangs der Proteste und Solidarität der Umweltaktivist*innen an verschiedenen Schauplätzen. 

Am 1. August 2021 hat der Kreuzweg sein Ziel erreicht. Das von dem Gorlebener Gebet Das gestiftete gelbe Kreuz wurde in Lützerath an der Eibenkapelle aufgestellt. „Dieses Kreuz stellen wir als Symbol der Hoffnung gegen die Zerstörung der Schöpfung auf, die kaum irgendwo greifbarer ist als an diesem gigantischen Loch“, sagte Cornelia Senne, Theologin und Mitglied der Initiative „Die Kirche(n) im Dorf lassen“, damals.

 

Eibenkapelle 2.0 – Ein Fingerzeig Gottes

Die Entdeckung des von Gestrüpp eingewachsenen Kapellen-Grundstücks – eine 40 qm große von Eiben umgebene Umfriedung mit vier Treppenstufen – im Sommer 2021 bezeichnete Ralf Meister, evangelischer Landesbischof aus Hannover, als einen „Fingerzeig Gottes“. 

In der mit dem Gorlebener Kreuz, Kerzen und Blumen geschmückten Freiluft-Kapelle fanden bis vor wenigen Tagen regelmäßige Gottesdienste statt. Die Kapelle ist darunter geräumt, die Eibenbäume abgeholzt. Doch ihr Fundament steht noch. Was ist mit dem Kreuz aus Gorleben geschehen?  

„Es wurde von der Polizei in Obhut genommen“, sagt Meyer-Antz. Laut Augenzeugenberichten habe ein Beamter das Kreuz „achtungsvoll“ weggetragen. Man bemühe sich nun, es zu lokalisieren und wiederzuerlangen. 

„Die Kapelle war ein Treffpunkt für Menschen von nah und fern, die sich mit der christlichen Klimabewegung verbunden fühlen. Sie wird nicht nur in unserem Geist weiterleben. „Es wird gewiß eine Eibenkapelle 2.0 geben“, so Meyer-Antz.

Nach der Räumung der Kapelle hat Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche (EKD), in einem Instagram-Beitrag den Klimaschützern in Lützerath ihre Solidarität ausgesprochen. „In den vergangenen Monaten war die Eibenkapelle ein ökumenischer Ort für alle Menschen für Stille, zum Innehalten, zum Beten. „Zum Bewundern und Bestaunen von Gottes Schöpfung und zum Gedanken machen, wie wir damit verantwortlich umgehen können“, schrieb Heinrich. 

Sie dankte allen, die sich „gewaltlos für Klimaschutz, für Klimagerechtigkeit, für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.“ Im Gebet, auf der Straße und in der Politik. Wir brauchen Orte wie die Eibenkapelle, die Hoffnung geben und Kraft zum beherzten Handeln gegen die Klimakatastrophe, auf die wir zurasen.“ 

 

Halte den Menschen im Zaum

Die Prozession endete an der gemeinsamen Kirche in Keyenberg mit einem Gebet und Gesang. Die Gläubigen im Kreis geben sich dabei die Hände. Trotz Trauer und Erschütterung über das aggressive Verhalten der Einsatzkräfte bei der Räumung wollen die Teilnehmer:innen ihren gewaltfreien Protest gegen den Braunkohleabbau fortsetzen und sich an der Großdemonstration am Samstag beteiligen.

Pfarrer Esmajor lädt mich ein, als letzten Gottesdienst-Beitrag aus dem Umwelt-Psalm „Die Erde stöhnt“ von Monsignore Stephan Wahl vorzulesen, ein Text, den ich aus Bonn mitgebracht habe. Er ist aus dem Buch entnommen „Erwarte von mir keine frommen Sprüche“ . Die letzten Psalm-Verse lauten:

 

„Doch nicht alle üben Verrat an Deiner wunderbaren Schöpfung.“

Stärke die Mutigen und Widerständigen in ihrem lauten Protest.

Dein Segen sei mit allen, die ohne Aufsehen, doch konsequent,

Nachhaltig leben, die Welt bewahren, da, wo sie sind.

Denn auch den Kindern und Kindeskindern soll es vergönnt sein,

zu staunen über den Reichtum deiner vielfältigen Schöpfung.

Gepriesen bist du, Ewiger, Schöpfer der Tage und Nächte,

erhalte die Welt und halte die Menschen im Zaum.“